Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt

3.6 Fische

Der Zustand der Fischgemeinschaft in der Tideelbe und in den Nebenflüssen wird im folgenden biologisch-ökologisch beurteilt.

Die Auswahl der verwendeten Parameter erfolgte unter dem Gesichtspunkt der Relevanz für die Fischgemeinschaft der Tideelbe unter Berücksichtigung der in der Vergangenheit durchgeführten sowie der geplanten anthropogenen Eingriffe. Dementsprechend wurde für das Arteninventar eine Einschätzung der Natürlichkeit und des Gefährdungsgrades der Fischfauna vorgenommen (Kap. 3.6.1). Die Einschätzung der Habitatverhältnisse bezieht sich vor dem Hintergrund der bereits drastisch reduzierten Habitatheterogenität in der eigentlichen Strom-elbe konkret auf wichtige Nebenflüsse, Nebengewässer und verbliebene Nebenstromgebiete (Kap. 3.6.2). Die Einschätzung von ökologischer Funktion und Leistung orientiert sich an der Bedeutung der Tideelbe als Nahrungsgebiet für die Fische, an der Produktion von Fischbiomasse (Kap. 3.6.3), sowie an ihrer Bedeutung als Laichgebiet und Aufwuchsgebiet für Jungfische (Kap. 5.2.6).

 

3.6.1 Natürlichkeit und Gefährdungsgrad der Fischfauna

Die Elbe nimmt unter den Flüssen Europas eine Sonderstellung ein. Besonders die Tideelbe gilt nach wie vor als einer der fischreichsten Ströme Europas überhaupt. Hier haben sich große Populationen von Finte und Stint erhalten, die aus anderen europäischen Flüssen bereits verschwunden bzw. in starkem Rückgang begriffen sind.

Das Spektrum der in der Tideelbe vorkommenden Fischarten kann als teilweise naturnah bezeichnet werden, berücksichtigt man neben den fünf ausgestorbenen oder verschollenen Fischarten und sieben allochthonen Arten auch die hohe Gesamtzahl an gegenwärtig präsenten Fischarten. In der Tideelbe und ihren Nebenflüssen unterhalb Hamburgs kommen insgesamt 86 Fischarten vor (Tabelle 3.6.1.1). Das sind deutlich mehr Arten, als in anderen europäischen Flußästuaren festgestellt wurden. Gameson & Wheeler (1977) geben 62 Fischarten für das Ästuar der Themse an. Costa & Elliott (1991) fanden sogar nur 43 Fischarten im Forth-Ästuar in Schottland und 45 Arten im Ästuarbereich des Tagus in Portugal. Die hohe Fischartenzahl in der Tideelbe und ihren Nebenflüssen sagt jedoch nichts über den eigentlichen Zustand bzw. den Gefährdungsgrad der Ichthyozönose aus.

Insgesamt betrachtet, ist die gegenwärtige Situation der Fischfauna in der Tideelbe bedenklich. Zahlreiche Arten wurden nur über Einzelfänge nachgewiesen (vgl. Tabelle 2.6.3.1), was ein Hinweis darauf ist, daß von ihnen entweder nur noch Restpopulationen vorhanden sind oder keine sich selbst reproduzierenden Bestände mehr existieren. 37 % der limnischen und euryhalinen Fischarten (ohne Berücksichtigung der allochthonen Arten) dieses Gebietes gehören den bundesweiten Gefährdungskategorien 0-2 an, daß heißt, sie sind stark gefährdet bis ausgestorben (Tabelle 3.6.1.1). Weitere 26 % sind gefährdet, und nur bei 37 % der limnischen und euryhalinen Fischarten konnte keine Gefährdung festgestellt werden. Günstiger ist die Situation bei den Meeresfischen. Bei den marinen Arten müssen 9 % als gefährdet eingeschätzt werden. 88 % der marinen Arten sind entweder nicht gefährdet oder nicht in die Rote Liste aufgenommen worden.

Tab. 3.6.1.1: Gefährdungsgrad der Fischarten in der Tideelbe und ihren Nebenflüssen für Schleswig-Holstein (SH) nach DEHUS (1990), für Niedersachsen (NS) nach GAUMERT & KÄMMEREIT (1993), für Hamburg (HH) nach DIERCKING & WEHRMANN (1991) und bundesweit (BU) nach Nowak et al. (1994). Kathegorie 0: ausgestorben oder verschollen, 1: vom Aussterben bedroht, 2: stark gefährdet, 3: gefährdet bzw. gefährdete, wandernde Art, 4: potentiell gefährdet, 5: nicht gefährdet bzw. nicht in der Roten Liste geführt, F: kein autochthones Vorkommen, -: keine Angaben.

NR. FISCHARTEN Deutsche Bezeichnung SH NS HH BU
  Limnische Arten          
1 Gymnocephalus cernuus (L.) Kaulbarsch 5 5 3 5
2 Stizostedion lucioperca (L.) Zander 5 4 5 5
3 Abramis brama (L.) Brassen 5 5 5 5
4 Aspius aspius (L.) Rapfen 3 3 3 3
5 Rutilus rutilus (L.) Plötze 5 5 5 5
6 Blicca bjoerkna (L.) Güster 5 5 5 5
7 Perca fluviatilis L. Flußbarsch 5 5 5 5
8 Leuciscus idus (L.) Aland 5 5 3 3
9 Pungitius pungitius (L.) Neunstachl. Stichling 5 5 4 5
10 Abramis ballerus (L.) Zope 3 4 4 3
11 Lampetra planeri (Bloch) Bachneunauge 2 2 2 2
12 Scardinius erythrophthalmus (L.) Rotfeder 5 5 3 5
13 Tinca tinca (L.) Schleie 5 5 5 5
14 Esox lucius L. Hecht 3 3 3 3
15 Rhodeus sericeus amarus Bloch Bitterling 3 1 2 2
16 Carassius carassius (L.) Karausche 5 3 4 3
17 Leucaspius delineatus (Heckel) Moderlieschen 3 4 4 3
18 Leuciscus leuciscus (L.) Hasel 3 5 3 3
19 Leuciscus cephalus (L.) Döbel 4 5 3 5
20 Cobitis taenia L. Steinbeißer 3 2 2 2
21 Lota lota (L.) Quappe 3 3 2 2
22 Gobio gobio (L.) Gründling 5 5 5 5
23 Barbus barbus (L.) Barbe 2 2 1 2
24 Alburnus alburnus (L.) Ukelei 3 3 3 5
25 Misgurnus fossilis (L.) Schlammpeitzger 3 2 2 2
26 Coregonus albula L. Kleine Maräne 5 - F 3
27 Cyprinus carpio L. Karpfen F - F 2
28 Carassius auratus gibelio (Bloch) Giebel F - F 5
29 Ictalurus nebulosus (Le Sueur) Zwergwels F F F F
30 Hypophthalmichthys molitrix (Val.) Silberkarpfen F F F F
31 Ctenopharyngodon idella (Cuvier) Graskarpfen F F F F
32 Vimba vimba (L.) Zährte 0 2 1 2
33 Silurus glanis L. Wels 2 2 0 2
34 Salmo trutta f. fario Bachforelle 2 3 2 3
35 Thymallus thymallus (L.) Äsche F 3 2 3
36 Noemacheilus barbatulus (L.) Schmerle 2 3 2 3
37 Phoxinus phoxinus (L.) Elritze 2 2 2 3
38 Aristichthys nobilis (Richardson) Marmorkarpfen F F F F

Fortsetzung Tab. 3.6.1.1

Nr. FISCHARTEN Deutsche Bezeichnung SH NS HH BU
  Euryhaline Arten          
39 Osmerus eperlanus L. Stint 5 4 4 5
40 Pleuronectes flesus (L.) Flunder 5 5 4 5
41 Anguilla anguilla (L.) Aal 5 5 5 5
42 Gasterosteus aculeatus L. Dreistachl. Stichling 5 5 4 5
43 Alosa fallax (Lacépède) Finte 5 2 1 2
44 Lampetra fluviatilis (L.) Flußneunauge 3 2 2 2
45 Salmo trutta L. Meerforelle 3 2 2 2
46 Petromyzon marinus L. Meerneunauge 2 1 2 2
47 Salmo salar L. Lachs 1 1 0 1
48 Oncorhynchus mykiss (Walb.) Regenbogenforelle F F F F
49 Acipenser sturio L. Stör 0 0 0 0
50 Alosa alosa (L.) Maifisch 0 1 0 1
51 Coregonus oxyrhynchus (L.) Nordseeschnäpel 1 0 1 0
  Marine Arten          
52 Clupea harengus L. Hering - - - 5
53 Pomatoschistus minutus (Pallas) Sandgrundel - - - 5
54 Pomatoschistus microps (Kröyer) Strandgrundel - - - 5
55 Sprattus sprattus (L.) Sprotte - - - 5
56 Solea solea (L.) Seezunge - - - 5
57 Syngnathus rostellatus Nilss. Kleine Seenadel - - - 5
58 Gadus morhua (L.) Dorsch - - - 5
59 Merlangius merlangius (L.) Wittling - - - 5
60 Pleuronectes platessa (L.) Scholle - - - 5
61 Liparis liparis (L.) Scheibenbauch - - - 3
62 Chelon labrosus (Risso) Dicklipp. Meeräsche - - - 5
63 Myoxocephalus scorpius (L.) Seeskorpion - - - 5
64 Limanda limanda (L.) Kliesche - - - 5
65 Agonus cataphractus L. Steinpicker - - - 5
66 Trigla lucerna L. Roter Knurrhahn - - - 5
67 Belone belone (L.) Hornhecht - - - 5
68 Zoarces viviparus (L.) Aalmutter - - - 5
69 Ammodytes lancea Yar. Kleiner Sandaal - - - 5
70 Trisopterus minutus (L.) Zwergdorsch - - - 5
71 Ciliata mustela (L.) Fünfbärtel. Seequappe - - - 5
72 Cyclopterus lumpus L. Seehase - - - 4
73 Scophthalmus rhombus (L.) Glattbutt - - - 5
74 Psetta maxima (L.) Steinbutt - - - 5
75 Trisopterus luscus (L.) Franzosendorsch - - - 5
76 Roccus labrax (L.) Wolfsbarsch - - - 3
77 Scomber scombrus L. Makrele - - - 5
78 Trachurus trachurus (L.) Stöcker - - - 5
Nr. FISCHARTEN Deutsche Bezeichnung SH NS HH BU
79 Gaidropsarus mediterraneus (L.) Mittelm.-Seequappe - - - -
80 Rhinonemus cimbrius (L.) Vierbärtel. Seequappe - - - 5
81 Mullus surmuletus (L.) Streifenbarbe - - - 5
82 Syngnathus acus (L.) Große Seenadel - - - 3
83 Hyperoplus lanceolatus (Les.) Großer Sandaal - - - 5
84 Pholis gunellus (L.) Butterfisch - - - 5
85 Engraulis encrasicolus L. Sardelle - - - 5
86 Gobius niger (L.) Schwarzgrundel - - - 5

Fortsetzung Tab. 3.6.1.1

  Limnische und euryhaline Arten Kategorie 0 3 2 4 2
    Kategorie 1 2 4 4 2
    Kategorie 2 7 10 12 13
    Kategorie 3 12 8 8 12
    Kategorie 4 1 4 7 0
    Kategorie 5 18 15 8 17
  Marine Arten Kategorie 0-2 - - - 0
    Kategorie 3 - - - 3
    Kategorie 4 - - - 1
    Kategorie 5 - - - 30

 

3.6.2 Bedeutung der Nebenflüsse, Nebengewässer und Nebenstromgebiete

Anthropogene Einflüsse wie Flußregulierungsmaßnahmen, Gewässerverschmutzung und Überfischung der Elbe haben zu Veränderungen ursprünglicher gewässermorphologischer Strukturen und Produktionspotentiale der Fischgemeinschaften geführt. Besonders betroffen war die Tideelbe unterhalb von Hamburg, deren Ausbau zur Schiffahrtsstraße in der Reduktion ursprünglicher Habitatsheterogenität und in der Veränderung des Strömungsregimes resultierte. Damit war der Verlust aquatischen Lebensraums für eine Reihe von Fischarten verbunden.

Vor diesem Hintergrund kommt den Nebenflüssen der Tideelbe große Bedeutung für den Erhalt von Restpopulationen heute gefährdeter Arten zu, die sich früher auch in der eigentlichen Tideelbe selbständig reproduzierten. Hervorzuheben ist der Erhalt von Restpopulationen der Quappe in Pinnau, Este, Lühe, Schwinge und Oste. Die Oste ist darüber hinaus der an Fischlarven reichste Nebenfluß der Tideelbe unterhalb Hamburgs (Fiedler, 1991). Das Gebiet der Ostemündung ist ein wichtiges, intaktes Aufwuchsgebiet für Larven und Juvenile euryhaliner und mariner Fischarten, wobei vor allem die Flachwasser - und Wattgebiete von den frühen Entwicklungsstadien der Fische aufgesucht werden (THIEL, 1994b).

In der Vergangenheit haben neben anthropogen bedingten Eutrophierungserscheinungen und Veränderungen des Wasserchemismus vor allem weiträumige Reduktionen der Überschwemmungsflächen und Flachwassergebiete sowie der weitgehende Verlust natürlicher Uferstrukturen zu erheblichen Beeinflussungen des Reproduktionsgeschehens in der Unterelbe geführt (NELLEN, 1992; THIEL et al., 1995b). Durch die Kanalisierung der Unterelbe wurden einerseits geeignete Laichplätze phytophiler und lithophiler Fischarten in großem Umfang vernichtet. Andererseits kam es zu einer Erhöhung der Strömungsgeschwindigkeit, die eine verstärkte Verdriftung von Fischlarven aus ihren ursprünglichen Aufwuchsgebieten bewirkt.

In Anbetracht dieser Entwicklungen hat die relative Bedeutung von Flachwasser- und Wattgebieten wie dem Mühlenberger Loch und von Arealen mit noch großer Habitatsheterogenität wie im Falle der Haseldorfer Binnenelbe zugenommen (KAFEMANN et al., 1996). Die noch relativ hohe Habitatsheterogenität der Haseldorfer Binnenelbe ist die Ursache dafür, daß in diesem Gebiet höhere Diversitäten der Fischfauna bestimmt werden als in den anderen Nebenstromgebieten der Tideelbe (THIEL et al., 1995a). Das Mühlenberger Loch hingegen, eine der letzten heute noch vorhandenen, strömungsberuhigten Flachwasserbuchten der Tideelbe, beherbergt zwar die höchste Zahl an Fischarten im Vergleich zu den anderen Randbereichen (KAFEMANN et al., 1996), weist aber aufgrund der Dominanz des Stintes geringere Diversitätsindizes auf als die Haseldorfer Binnenelbe. Nebenstromgebiete wie das Mühlenberger Loch und die Haseldorfer Binnenelbe sind heute die wichtigsten Reproduktions- und Aufwuchsgebiete der Fische in der Tideelbe, vor allem vor dem Hintergrund der in der Vergangenheit durchgeführten wasserbaulichen Eingriffe.

Auch Nebengewässer der Tideelbe haben als Laich- und Aufwuchsgebiete vieler Fischarten große Bedeutung. Gegenwärtig ist beispielsweise die Alte Süderelbe ein wichtiges Reproduktions- und Aufwuchsgebiet der Süßwasserfischfauna (THIEL & SEPÚLVEDA, 1994). Selbst die euryhalinen Stinte finden hier im Mai und Juni günstige Aufwuchsbedingungen und wachsen sogar besser als zu vergleichbaren Zeitpunkten im Mühlenberger Loch (THIEL & SEPÚLVEDA, 1994).

 

3.6.3 Nahrungsökologie und Biomasseproduktion der Fische in der Tideelbe

Flußästuare wie die Tideelbe haben eine wichtige Funktion als Laich- und Aufwuchsgebiete für viele limnische und euryhaline Fischarten (THIEL et al., 1995c) und sind aufgrund ihres relativ hohen Nahrungsangebotes auch als Aufwuchsgebiete für juvenile marine Fische von großer Bedeutung (Elliott et al., 1990).

Insgesamt wurden bisher 62 verschiedenen Nahrungskomponenten in der Nahrung von zehn dominanten Fischarten der Tideelbe nachgewiesen (THIEL et al., 1995c). Die höchsten Anzahlen von jeweils 34 verschiedenen Nahrungskomponenten konnten beim Hering und bei der Flunder festgestellt werden. Copepodide von Eurytemora affinis (Poppe), Copepodeneier, Neomysis integer (Leach), Gammarus zaddachi Sexton, Crangon crangon (L.), Detritus und Larven sowie Juvenile verschiedener Fischarten (vor allem Stint) sind die wichtigsten Nahrungskomponenten der Fische in der Tideelbe unterhalb Hamburgs.

Hinsichtlich der Höhe ihrer Fischproduktion gehört die Tideelbe mit einer Nettojahresproduktion von mehr als 70 kg ha-1 für die Altersgruppen 0 und 1 zu den Gewässern mit einer hohen Fischproduktion im Vergleich zu anderen europäischen Ästuargewässern. So ermittelten beispielsweise Thorman & Fladvad (1981) eine Jahresproduktion von 62 kg ha-1 für die gesamte Fischgemeinschaft des Broälven Ästuars in Südschweden. Für die Darß-Zingster Boddenkette, einem Küstengewässer der südlichen Ostsee, konnten Produktionswerte zwische 30 und 50 kg ha -1 für die Altergruppen 0 bis 2 bestimmt werden (THIEL, 1990), und Harvey (1950) gibt eine Jahresproduktion von 40-50 kg ha-1 für die Fischbestände im Englischen Kanal an.

Das Anwachsen des Stintbestandes und die stromauf gerichtete Verlagerung der Laichplätze der Finte können als erste Anzeichen einer verbesserten Wasserqualität gewertet werden. Dadurch wird allerdings in keiner Weise die Veränderung gewässermorphologischer Strukturen kompensiert, was bereits seit Beginn dieses Jahrhunderts zu einer Verschiebung der Fischgemeinschaftsstrukturen und letztendlich zur Zunahme der Dominanz des Stintes geführt hat. Für den Erhalt der gegenwärtig präsenten Ichthyozönose bzw. zur Wiederherstellung der ehemals vorhandenen Fischgemeinschaftsstrukturen wären gewässermorphologische Sanierungsmaßnahmen (Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen im Rahmen der UVU) notwendig, die wieder zur Erhöhung der Habitatsheterogenität beitragen und zur Schaffung geeigneter Reproduktions- und Aufwuchsgebiete vor allem für phyto- und lithophile Laicher geeignet sind.