Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt

2.5.2 Mikrophytobenthos

2.5.2.1 Allgemeines

Die Lebensgemeinschaft des Mikrophytobenthos setzt sich aus einer Vielzahl benthischer Mikroalgenarten zusammen, die auf oder im Bodensubstrat leben. Es handelt sich dabei um prokaryontische Blaualgen sowie eukaryontische kleine Algen (überwiegend Diatomeen und Flagellaten) (GÄTJE, 1991). Nach ihrer Lebensweise lassen sie sich in bewegliche (vagile) und festsitzende (sessile) Algen mit Stielen, Gallertpolstern etc. unterteilen (Abb. 2.5.2.1). Ein Teil von ihnen kann abgeschwemmt werden und gelangt dann ins Plankton, auch lagern sich Plankter auf Sedimenten ab, wie z.B. Actinocyclus normanii (Kap. 2.5.1). Im Folgenden werden unter Mikrophytobenthos die "sedimentbewohnenden Algen" verstanden.11

In der Tideelbe lebt das Mikrophytobenthos überwiegend auf und in den Wattenflächen. Es kann aufgrund der hohen Trübung nur Photosynthese betreiben, wenn der Wasserstand niedrig ist bzw. die Watten weitgehend trocken fallen. Während viele der Algen festsitzen, kriechen die beweglichen Formen bei nachlassender Strömung und geringer Wasserüberdeckung aus dem Lückensystem der Wattenböden an die Oberfläche. Durch diese tidenabhängige Vertikalwanderung nutzen sie einerseits das Licht aus und werden andererseits vor dem Verdriften geschützt. Die Vertikalwanderung wird bei Diatomeen (Navicula spp.) durch Schleimbänder, bei Flagellaten (Euglena obtusa) durch Geißeln erreicht. Die Algen breiten sich auf der Sedimentoberfläche aus und betreiben so ihre Photosynthese bei voller Lichtintensität. Je nach Höhenlage der Watten ist diese Phase unterschiedlich lang (SEEMANN, 1993). Bei auflaufender Tide wandern die Algen wieder ins Sediment zurück. Das Mikrophytobenthos ist also während der Zeit des Trockenfallens der Wattenflächen nicht lichtlimitiert und stellt damit einen wesentlichen Sauerstofflieferanten für die Oberflächensedimente und bei Überdeckung auch für die darüberstehende Wassersäule dar (Kap. 3.2). Neben Sedimentbeschaffenheit, den verfügbaren Nährstoffen, dem Lichtangebot (Seston) und dem Salzgehalt (Kap. 2.4.3), werden Ausprägung und Verteilung des Mikrophytobenthos auch durch die Dezimierung in Folge von Wegfraß (Grazing) bestimmt.

 

2.5.2.2 Historische Angaben

Früher wurde das Mikrophytobenthos nur unter taxonomischen Gesichtspunkten bearbeitet. Hierzu zählen die Untersuchungen von HUSTEDT (1939) an der Nordseeküste nahe der Elbemündung und von HENTSCHEL (1925) im Rahmen von Aufwuchsuntersuchungen im Hamburger Hafen. In diesen Arbeiten gibt es aber nur wenige punktuelle Angaben über Diatomeen. Erste spezielle Untersuchungen über das Mikrophytobenthos wurden 50 Jahre später von TIMM (1976) durchgeführt (Tab. 2.5.2.1).

Abb. 2.5.2.1: Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen von vagilen Kieselalgen (Navicula pygmea) und einigen fädige Cyanobakterien (Oscillatoria sp.) an der Oberfläche eines schlickigen Sediments (oben) und sessilen Kiesel-algen (Opephora schulzii) auf Sandkörnern (unten) aus dem Elbe-Ästuar (KIES et al., 1992)

 

2.5.2.3 Zeitraum 1960-1987

Für diesen Zeitraum liegen ebenfalls einige punktuelle Angaben in Aufwuchsuntersuchungen vor. TENT (1981) beschrieb den saisonalen Artenwechsel der Diatomeen-Assoziationen im Aufwuchsrasen im Hamburger Hafen, und RIEDEL-LORJÉ (1981) machte Angaben über Arten im natürlichen pflanzlichen Bewuchs, besonders über Diatomeen im Elbebereich von Stade. Weiterhin existiert eine Reihe von Untersuchungen des Mikrophytobenthos, die einerseits bestandskundliche (Arten, Abundanzen, Biomasse etc.) und andererseits physiologische Aspekte (Photosynthese, Nährstoffaufnahme etc.) betreffen: TIMM (1976), LÄNGE, (1983), CASPERS (1984). CASPERS registrierte hohe Sauerstoffübersättigungen im Mühlenberger Loch aufgrund der Photosynthese benthischer und planktischer Algen, ohne diese jedoch zu trennen. HECKMAN (1984) machte bei seinen Untersuchungen 1981-1983 zwischen der Haseldorfer Marsch und Krückau Angaben über sessile Algen sowie binnendeichs und außendeichs über die Vertikalwanderung im Sediment.

Tab. 2.5.2.1: Ausgewählte Mikrophytobenthos-Untersuchungen in der Tideelbe

ABSCHNITTE DER TIDEELBE

Elbe-Strom-km (A)

727-756

704-727

677-704

650-677

632-650

610-632

586-610

Autor

(Veröffentl.Jahr)

Untersuchungs-zeitraum

Artenzahl

(Gattung)

VII

VI

V

IV

III

II

I

TIMM
(1976)

1975

16 (+10)

  

X

    
LÄNGE
(1983)

1980-1981

33

  

X

X

   
CASPERS
(1984)

1981

16

    

X

(X)

 
HECKMANN *
(1984)

1981/83

    

X

   
GÄTJE
(1991)

1986-1990

172

 

X

X

X

   
WILTSHIRE
(1992)

1989-1990

-

  

X

    
SEEMANN
(1993)

1992

82

 

X

     

* nicht ausgewertet

2.5.2.4 Aktuelle Angaben (ab 1988)

Die von GÄTJE (1991) vom limnischen bis in den mesohalinen Bereich der Stromelbe durchgeführten Untersuchungen wurden von SEEMANN (1993) durch Arbeiten im mixo- bis polyhalinen Bereich ergänzt.

Beide Arbeiten enthalten umfangreiche Artenlisten, in denen die pennaten Diatomeen überwiegen. Nach KIES et al. (1992) wurden in der Tideelbe bisher insgesamt 152 Taxa nachgewiesen, überwiegend Kieselalgen. SEEMANN (1993) beobachtete auf einem Querprofil vom Neufelder Watt 82 Diatomeen-Arten, von denen 17 an allen Stationen auftraten (Tab. 2.5.2.2) und stellte den Jahresverlauf für die fünf häufigsten dar (Abb. 2.5.2.2). Hier, wie auch aus den Untersuchungen von GÄTJE (1991) zu entnehmen, beeinflußte neben dem Salzgehalt der Sedimentcharakter (Kap. 2.4.4) die Lebensgemeinschaften. So wird das Sandwatt mehr von den weniger beweglichen Diatomeen Fragilaria spp. und Achnanthes spp. besiedelt (GÄTJE, 1991). Die relativ geringe Eindringtiefe des Lichtes in den stark tonigen und schlickigen Bereichen erfordert eine stärkere Beweglichkeit (Vertikalmigration) der Algen, wie z.B. von Navicula spp. und Euglena spp..

Tab. 2.5.2.2: Diatomeen-Arten, die an allen Stationen auftraten (SEEMANN, 1993)

FamilieArt
CymatosiraceaeCymatosira belgica
FragilariaceaeRaphoneis minutissima
Raphoneis surirella
AchnanthaceaeAchnanthes delicatula
NaviculaceaeNavicula flanatica
N. viridula var. rostellata
N. margalithii
N. tenera
N. digitoradiata
N. cincta
N. gregaria
N. phyllepta
N. forcipata
N. perminuta
Amphora ovalis
Amphora coffeaeformis
Diploneis didyma

Abb. 2.5.2.2: Durchschnittliche Abundanz (kumulativ) der fünf häufigsten Arten der Gattungen Navicula und Achnanthes an Station II und III12 im Neufelder Watt 1992 (SEEMANN, 1993)

Nach SEEMANN (1993) beeinträchtigt der schwankende Salzgehalt im Übergangsbereich vom oligo- zum mesohalinen Brackwasser das Mikrophytobenthos besonders stark. Im Vergleich zu den Medianen ist die Variabilität der Biomasseparameter Chlorophyll-a, Phäopigmente und Algenzellzahl sehr hoch, mit sehr hohen Maxima, die die Meridiane oft um ein Vielfaches überragen (u.a. GÄTJE, 1991). Dies ist nicht nur auf die natürliche Variabilität innerhalb der Lebensgemeinschaft sondern auch auf die Patchiness, d.h. die fleckenhafte Verteilung auf den Watten, zurückzuführen (LÄNGE, 1983).

Tab. 2.5.2.3: Vorkommen ausgewählter Arten des Mikrophytobenthos zugeordnet zu den Stromkilometern (A) und den Salzgehaltszonen (GÄTJE 1991, mod.)

ABSCHNITTE DER TIDEELBE

Elbe-Strom-km (A)

711

701

692

687

678

699

665

658

Halinität

mesohalin (m)

o - m

oligohalin (o)

o - l

limnisch (l)

TAXA

ART

        
Bacillariophyceae
Grammatophora marina

x

       
Anorthoneis excentrica

x

       
Amphora veneta

x

       
Entomoneis alata

x

       
Anomoeoneis sphaerophora

x

       
Caloneis brevis

x

       
Navicula meniscus

x

       
N. scopulorum

x

       
Pleurosigma angulatum

x

       
Trachyneis aspera

x

       
Nitzschia closterium

x

       
N. commutata

x

       
N. granulata

x

       
Cymatopleura elliptica

x

        
BacillariophyceaeAchnanthes delicatua

x

x

x

x

x

x

x

x

Navicula gregaria

x

x

x

x

x

x

x

x

BacillariophyceaeDiploneis elliptica           

x

 
Frustulia vulgaris             

x

Gyrosigma acuminatum           

x

 
G. macrum             

x

N. cuspidata           

x

x

N. decussis             

x

N. pupula           

x

x

N. rhynchocephala           

x

x

Neidium dubium           

x

 
Stauroneis legumeni           

x

 
S. smithii             

x

Surirella angusta           

x

 
S. biseriata             

x

S. ovalis           

x

 
EuglenophyceaeEuglena acus   

x

  

x

 
E. satelles     

x

   

x

x

E. spyrogyra     

x

   

x

 
E. tripteris     

x

   

x

x

E. vermiformis     

x

   

x

 
Phacus pleuronectes     

x

   

x

x

P. pyrum     

x

   

x

x

Eine Zuordnung einzelner Arten des Mikrophytobenthos zu bestimmten Salzgehalten erfolgte in den o.g. Arbeiten nur sehr grob. Auch wenn sich eine solche Zuordnung als schwierig erweist, da gerade im oligohalinen Bereich der Salzgehalt sehr stark schwankt, wird eine derartige Gliederung versucht (Tab. 2.5.2.3).

Über die strukturelle Beschreibung der Lebensgemeinschaft hinaus wurden Untersuchungen zur Produktionsbiologie des Mikrophytobenthos durchgeführt. Dabei ermittelte SEEMANN (1993) auf dem Neufelder Watt im Jahresgang ein Produktionsmaximum im Juni mit einem Median von ca. 130 mg Chlorophyll-a m-² (Abb. 2.5.2.3). Bei einer Bilanzierung der Primärproduktion errechnete SEEMANN Biomassen zwischen 181,73 und 8,79 und GÄTJE (1991) zwischen 664,6 und 9,4 mg Chlorophyll-a m-². Im Mesohalinikum ermittelte Gätje als Jahresmittelwerte 42 bzw. 58,9, SEEMANN 51 mg m-² (Kap. 2.5.3). Ergänzend führte WILT-SHIRE (1992) Experimente zum Einfluß des Mikrophytobenthos auf den Nährstoffaustausch zwischen Sediment und Wasser in der Tideelbe durch (Kap. 3.2), konnte aber noch keine Bilanzierung durchführen.

Abb. 2.5.2.3: Box-and-Whisker-Plot der Biomasseverteilung (mg Chlorophyll-a m-2) für alle Stationen im Neufelder Watt im Jahresgang 1992 (SEEMANN, 1993)

SEEMANN (1993) beschreibt den Zusammenbruch einer Algenpopulationen, der an eine deutliche Massenentwicklung des Schlickkrebses Corophium spec. gekoppelt war. Auch kommen seiner Meinung nach die Nematoden als wesentliche Konsumenten in Betracht (Abb. 2.5.2.4). In der Literatur wird eine Dezimierung der benthischen Mikroalgen auch durch Ciliaten, Bathyporeia pilosa, Gastropoden, Nematoden und Oligochaeten angegeben (Kap. 2.6.2; GÄTJE, 1991).

Abb. 2.5.2.4: Beispiel für Grazing-Effekte im Elbe-Ästuar; Entwicklung der Biomasse des Mikrophytobenthos und der Nematodenzahl auf dem Neufelder Watt (SEEMANN, 1993)

Fußnoten:

11.) Zwischen Mikrophytobenthos (ROUND, 1971 und 1973 zitiert in GÄTJE, 1993) und (Eu-, Pseudo-) Periphyton (RIEDEL-LORJÉ, 1981) kann es zu Überschneidungen im Artenkatalog kommen.
12.) II = 250 m, III = 800 m hinter der Buhne am Deich