Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt

5.1 Prognose der Entwicklung der Brutvogellebensräume ohne die Fahrrinnenanpassung (Nullvariante)

Die letzten einschneidenden Eingriffe in die Brutvogellebensräume an der unteren Elbe durch Ausbau, Deich- und Sperrwerksbau sowie durch den nachfolgenden Strukturwandel der landwirtschaftlichen Nutzung in den ehemaligen Außendeichsflächen wirken sich nach mehr als zehn Jahren noch heute nachhaltig aus. Entsprechend den veränderten Bedingungen stellen sich neue Dominanzverhältnisse in den Lebensgemeinschaften ein, bis hin zur Reduzierung des Artenspektrums als Folge des gestörten Naturhaushaltes. So haben sich im Elbeästuar mit Seeregenpfeifer, Zwergseeschwalbe und Küstenseeschwalbe typische Arten in die Außenelbe zurückgezogen, die ursprünglich auch weiter oberhalb verbreitet waren. Spezialisierte Röhricht- und Auwaldarten kommen nur noch in den wenigen oberhalb der Brackwasserzone gelegenen Lebensräumen vor. Besonders empfindliche Arten wie Rohrdommel und Alpenstrandläufer sind vollkommen bzw. fast ausgestorben.

Andererseits sichern umfangreiche Unterschutzstellungen der letzten Jahre (z. B. Naturschutzprogramm Unterelbe) die verbliebenen Reste naturraumtypischer Lebensräume. Lokal wird der Flächenschutz durch Betreuung, Entwicklung und Management dieser Gebiete optimiert. Ebenso ist allmählich eine Entspannung der Belastungssituation der Ressourcen u. a. durch die merkliche Verbesserung der Wasserqualität zu verzeichnen. Für die Zukunft zeichnet sich eine Erholung der Leistungsfähigkeit des Naturhaushaltes ab, die den eingangs beschriebenen Umbruch der Lebensgemeinschaften auffangen kann. Als wesentliche bestands- und siedlungsbegrenzende Faktoren wirken sich weiterhin die durch hohen Unterhaltungsaufwand manifestierten Eingriffe in die morphologischen Strukturen durch Deich- und Sperrwerksbau sowie durch Lenkung und Vertiefung eines zur Fahrrinne umgestalteten Hauptstroms aus.

Auf der Basis der im Februar 1997 herausgegebenen Modellrechnungen der Bundesanstalt für Wasserbau "Fahrrinnenanpassung der Unter- und Außenelbe - Gutachten Hydromechanik - Auswirkung der Nullvariante", der HT-Studie Nr. 75 "Übersicht über geplante Baumaßnahmen im Bereich des Hamburger Hafens als Grundlage für die Erstellung der Null-Variante der UVU" und der HT-Studie Nr. 81 "Die Wirkung der Fahrrinnenanpassung an Unter- und Außenelbe auf die Hydrologie der Tideelbe vor dem Hintergrund möglicher Klima- und Meeresspiegel-Änderungen" wird eine Prognose der Veränderungen des Lebensraumes Außen- und Unterelbe, die auch ohne die Durchführung der Maßnahme stattfinden würden, im Hinblick auf Brutvogelvorkommen vorgenommen.

Die Brutvogelwelt möglicherweise betreffende geplante und genehmigte Maßnahmen sind:

  • DieVorlandverluste durch Erhöhung und Verstärkung der Hauptdeiche im Bereich der Hamburger Delegationsstrecke erzeugen keine Veränderungen der MTHW-Linie. Eine mögliche geringe Erhöhung der Sturmflutwasserstände ist für die Brutvögel nicht erheblich, da die Vorländer im Hamburger Bereich nicht als bedeutende Brutvogelgebiete bekannt sind. Eine Verkleinerung beeinträchtigt daher die Eignung der Unter- und Außenelbe als Brutvogel-Lebensraum nicht erheblich.
  • Die hydraulischen Auswirkungen durch Zuschüttung von Hafenbecken (Vulkanhafen, Indiahafen, Griesenwerder Hafen, Südwesthafen) und Ausbau und Vertiefung der Norderelbe bis an den mittleren Freihafen (Kaiser-Wilhelm-Hafen, Vorhafen) und der Süderelbe im Zuge der Hafenerweiterung Altenwerder verringern im Hamburger Hafen die Wasserfläche um ca. 40 ha. Die Folge ist eine geringere Dämpfung des Tidegeschehens. Die Reflexion an der Schwelle zur Mittelelbe (3 m Tiefe) wird durch die Vertiefung der Süder- und Norderelbe auf 14,9 -15 m unter NN verstärkt. Die beiden Effekte addieren sich und werden im Hamburger Hafen eine Tidehubvergrößerung von ca. 2 cm bewirken, die bis Glückstadt auf einen halben Zentimeter abgeklungen sein wird. Als MTHW-Erhöhung ergeben sich 0,2 cm bei Glückstadt bis 0,9 cm bei Geesthacht.
  • Die hydraulischen Auswirkungen sind für Brutvögel zu gering, um erhebliche Auswirkungen haben zu können.
  • Durch den Neubau des Este-Sperrwerks sind keine erheblichen Auswirkungen auf Brutvogelbestände zu erwarten, da die Estemündung kein wichtiges Brutvogelgebiet ist und die Störungen während der Bauphase im Mühlenberger Loch nach Beendigung des Baus nicht mehr spürbar sein werden. Eine geringe Beeinträchtigung während der Bauphase ist jedoch möglich.
  • Die Öffnung der Alten Süderelbe führt zu keiner Veränderung der Wasserstände in der Elbe, wird sich aber auf die Sedimentationsverhältnisse im Mühlenberger Loch und Köhlfleet auswirken. Für eine Öffnung liegen noch keine Modellrechnungen vor, es wird aber durch die Ausbildung neuer Priele und Sandbänke zu einer Differenzierung und Erhöhung der kleinräumigen Strukturvielfalt des Mühlenberger Lochs kommen. Eine Verkleinerung der für Watvögel bedeutenden Schlickwattbereiche ist zu erwarten, wird sich aber mit Flächengewinnen dieser Nahrungszonen an anderen Stellen (Alte Süderelbe selbst) ausgleichen.
  • Die Wiederaufnahme der Reetnutzung im Amtsbereich Itzehoe wird negative Auswirkungen auf Röhrichtbrüter haben, da die Halme durch die Nutzung schwächer werden und leichter knicken. In Halmen von ungemähten Schilfröhrichten überwintern viele Insekten, Spinnen usw. Sie dienen den Röhrichtbrütern auch als bedeutende Nahrungsquelle. Die mehrjährigen Schilfbereiche sind aufgrund besserer Bedingungen wichtig (u. a. Nahrungsangebot). Sie weisen während der Brutzeit höhere Dichten an Schilfbrütern auf. Gerade diese Flächen werden durch Reetmahd verkleinert.
  • Die Vordeichung des Spülfeldes Glückstadt-Süd hat keine Auswirkungen auf die Hydraulik der Elbe. Das bisher abwechslungsreich gegliederte Spülfeld dürfte etwas an Wert für Brutvögel verlieren.
  • Die Vertiefung der Liegewanne und die Erweiterung der Kaianlage des Nordhafens in Stade-Bützfleth wird keine erhebliche Auswirkung auf die Elbe als Brutvogelgebiet haben.
  • Die Umgestaltung des Amerikahafens und die Abflachung der Fahrrinnenkurve im Bereich des Leitdammes Kugelbake führt zu nur geringen Tidehubvergrößerungen (max. 0,5 cm) und sehr geringer Erhöhung des MTHW um 0,2 cm. Diese geringen Veränderungen sind für die Brutvogelwelt ohne Bedeutung.

Insgesamt ist durch Vorlandverluste eine geringe Verschlechterung der Situation für Brutvögel zu erwarten. Die Wiederaufnahme der Reetnutzung hat eine deutlich verschlechternde Wirkung, deren Ausmaß vom Umfang der Reetnutzung abhängt.

Bei der Berücksichtigung der klimatischen und geologischen Entwicklung ist in den nächsten Jahren mit einem säkularen Meeresspiegelanstieg von 1 cm zu rechnen, der in der Elbe zu einem MTHW-Anstieg von 2-3 cm und zu einem MTNW-Anstieg von 0-7 cm führen wird. Der säkulare Meeresspiegelanstieg führt natürlicherweise zur Erweiterung des Mündungstrichters der Elbe und damit zur Vergrößerung der Wasserfläche und zum Wandern der flachen Uferzonen und Überflutungsbereiche landeinwärts. Unter den derzeit herrschenden Bedingungen mit fester Deichlinie ist dieses Wandern der Uferzonen nicht mehr möglich. Sie werden sich langsam zugunsten der Wasserflächen verkleinern. Die Vorlandverluste durch den wasserseitigen Ausbau von Deichen addieren sich dazu. Damit verschlechtern sich langfristig die Bedingungen für Brutvögel.

Die zunehmend semiariden Perioden im Binnenland und die leichte Abkühlung des Klimas im Küstenraum werden vermutlich zu einer Konzentration feuchtgebietstypischer Arten in den Ästuaren führen. Die Bedeutung der Ästuare für Wat- und Wasservögel wird sich dadurch in der Zukunft noch erhöhen.

Ein wesentlicher Aspekt für die brütenden Vögel ist die zeitliche und vertikale Varianz von Sturmfluten. Wenn Sturmfluten höher auflaufen oder in der Brutzeit häufiger werden, ist ein vermehrter Ausfall von Gelegen und ein verminderter Bruterfolg zu erwarten. Beobachtungen der letzten Jahre (Mitteilung aus der HT/SB5-Studie Nr. 81, laufendes KFKI-Projekt "Windstauanalysen") haben ergeben, daß sich die mittlere Höhe von Sturmfluten seit 1950 nicht verändert hat, die Häufigkeit hoher Sturmfluten seit ca. 150 Jahren etwa konstant ist, aber sich die Zahl mittelhoher Sturmfluten in den letzten Jahren erhöht hat. Eine Projektion in die Zukunft ergibt eine "geringfügig steigende Zahl mittelhoher Sturmfluten (1,5 bis 2,5 m über MThw)". Soweit diese Sturmfluten in der Brutzeit von April bis Juni auftreten, werden mit Sicherheit mehr Gelege als bisher vernichtet. Dies führt bereits ohne die Maßnahme zu einer Verschlechterung der Situation für brütende Vögel.