Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt

3 IST-ZUSTAND DER TIDEELBE

3.1 Oberwasserstatistik

3.1.1 Relevanz des Oberwassers im Regime der Schwebstoffe und gelösten Stoffe

Die Zu- und Abnahme der in das Ästuar hineinfließenden Süßwassermenge beeinflußt nachweislich die Konzentrationsverteilung partikulärer und gelöster Wasserinhaltsstoffe. Ein erhöhter Oberwasserabfluß wirkt sich auf die Verteilung gelöster Stoffe wie folgt aus :

  • Die Wassermenge, die für die Verteilung eingeleiteter und im Strom produzierter Stoffe zur Verfügung steht, nimmt zu, so daß sich i.a. die Nährstoff- und Schadstoffkonzentrationen trotz erhöhter Fracht verringern.
  • Der Bereich mit dem stärksten Konzentrationsabfall gelöster Stoffe, der aus dem sich rasch ändernden Mengenverhältnis zwischen fluviatilem und marinem Wasser resultiert, verlagert sich stromab. Folglich werden die Konzentrationsgradienten am seeseitigen Ende größer und am stromaufliegenden Ende kleiner. Ferner verdrängt Süßwasser in einigen Bereichen das Brackwasser.
  • Die Verweilzeit des stromabfließenden Wasserkörpers verkürzt sich mit der Folge, daß sich die Reaktionszeit für biologische Prozesse erheblich verringert. Dies kann bei sommerlichen Temperaturen dem Effekt der Sauerstoffverarmung, die bis zu fischkritischen Grenzkonzentrationen führt, entgegenwirken.

Bei niedrigem Oberwasser sind die beobachtbaren Effekte entsprechend umgekehrt.

Eine weitere Wirkung des Oberwassers betrifft die Verteilung und den Transport der an Schwebstoff- und Sedimentpartikel gebundenen Nähr- und Schadstoffe: Im Verlauf von Ereignissen mit hohem Abfluß (z. B. durch Schneeschmelze oder starke Niederschläge) können - vor allem in der Phase des Anstiegs - z.B. am stromaufliegenden Ende des Untersuchungsgebietes kurzzeitig große Feststoff- und Schadstoffmengen in die Tideelbe eingetragen werden. In der Unterelbe führt hohes Oberwasser dagegen zur Stromabverlagerung der Trübungszone und dadurch zu einem verstärkten Export von Schadstoffen in die Nordsee.

Bei abfallendem Oberwasser tritt der gegenteilige Effekt ein: Die Trübungszone wird allmählich stromauf verschoben, und es erfolgt vor allem an der Flußsohle ein verstärkter Eintrag von marinem Feststoffmaterial in weiter stromaufliegende Flußabschnitte.

Die oberwasserbedingten Änderungen in der Feststoffkonzentrationsverteilung und -dynamik beruhen somit vor allem auf einer Verschiebung der Bereiche, in denen Feststoffe resuspendiert, an der Sohle oder in Suspension weitertransportiert und an anderer Stelle erneut abgelagert werden, sowie auf einer Verkürzung oder Verlängerung der Zeitspannen, die dafür im Tideverlauf zur Verfügung stehen.

3.1.2 Stellenwert der Szenarien-Modellierung

Ein wichtiger Aspekt bei der Quantifizierung der genannten Oberwasserwirkungen ist die Tatsache, daß wegen der Konkurrenz vieler Einflußgrößen nur deutlich unterschiedliche Systemzustände zutreffend charakterisiert werden können. Übergangssituationen zwischen diesen Oberwasser-Extremzuständen sind nur schwer beschreibbar, weil die Meßwerte besonders in einem Ästuar durch die Tidedynamik, jahreszeitliche Faktoren sowie die wasserbaulichen und natürlichen Feststoffumlagerungen dominierend geprägt werden.

Wie bereits erwähnt, wurden oberwasserbedingte Änderungen der für den Stofftransport wichtigen Tide-Parameter mit dem hydrodynamischen Modell (MATERIALBAND I) zu drei Oberwasserklassen berechnet:

geringe (< 500 m3/s), mittlere (500 - 900 m3/s) und hohe Abflüsse (> 900 m3/s).

(Das zusätzlich modellierte Extrem-Szenario einer langandauernden Ostwind-Wetterlage mit geringem Abfluss wird hier nicht betrachtet.)

Der Vergleich dieser Systemzustände beantwortet jedoch nicht die Frage, mit welcher Häufigkeit sie in der Natur tatsächlich auftreten. Diese statistische Aussage kann nur aus den Abflußmessungen der Vergangenheit gewonnen werden.

Für die Beantwortung ökologischer Fragestellungen und die Beurteilung der Gewässergütesituation wurde deshalb eine gesonderte Oberwasser-Statistik erstellt (s. Kap. 3.1.3 und Tab. 2 - 5), aus der hervorgeht,

  • in welchen Jahren,
  • zu welcher Jahreszeit,
  • wie häufig und
  • mit welcher Zeitdauer (Tage, Wochen oder Monate)

die im Modell analysierten Oberwasserszenarien in der Vergangenheit aufgetreten sind. Sie basiert auf den in den Zahlentafeln der Wassergütestelle Elbe veröffentlichten Oberwassertageswerten der Jahre 1979 - 1993 (ARGE ELBE 1979-1993).

In der Annahme, daß sich auch in Zukunft vergleichbare Niederschlagshäufigkeiten und regionale Verteilungen der Niederschläge im Wassereinzugsgebiet der Elbe einstellen, hat dieser Blick in die Vergangenheit zugleich auch prognostischen Wert. In Verbindung mit den zugehörigen Modellszenarien kann z.B. abgeschätzt werden, zu welchen Jahreszeiten und wie lange die Fauna und Flora im Flachwasser-, Watt- und Vordeichsland den vom Modell errechneten Salzgehaltszonierungen in der Natur tatsächlich ausgesetzt sind und wie lange oder wie häufig dort mit Strömungs- und Überflutungsbedingungen gerechnet werden muß, in denen eine besonders starke Erosion oder Ablagerung von Feststoffen stattfindet.

3.1.3 Ergebnisse der statistischen Analyse

Betrachtet man die 15 genannten Jahre zusammen, so fallen die Tage mit geringer Oberwasserführung vor allem auf die Sommerhalbjahre (Monate April - September), die Tage mit mittlerem und hohem Oberwasser auf den Winter (Monate Oktober - März) (Tab. 2).

Tab. 2: Anzahl der Tage mit niedrigem, mittlerem und hohem Oberwasser (Zeitraum 1979 - 1993)

Oberwasser

Tage insgesamt

Tage pro Jahr

 

Gesamt

Sommer

Winter

Gesamt

Sommer

Winter

< 500 m3/s

2243

1356

887

150

91

59

500 - 900 m3/s

1925

821

1104

128

55

73

> 900 m3/s

1310

551

759

87

37

50

Erläuterungen:
Anzahl der Tage mit niedrigem, mittlerem und hohem Oberwasser von 1979 - 1993, deren Verteilung auf das Sommer- (Monate April - September) und Winterhalbjahr (Monate Oktober - März) sowie der Angabe eines Jahresdurchschnitts für diesen Zeitraum. Aus dieser Tabelle ist z.B. ablesbar, daß im Sommerhalbjahr die Summe der Tage mit niedrigem Oberwasserabfluß durchschnittlich ca. 3 Monatre und mit hohem Oberwasser dagegen nur ca. 1 Monat betragen hat.

Erst eine Darstellung über die einzelnen Jahre (Tab. 3)6 zeigt, daß nicht nur besonders abflußreiche und abflußarme Jahre auftreten können, sondern daß z.B. auch mehrere aufeinander folgende Jahre ähnliche Abflußsituationen aufweisen können, bevor sich wieder andere Verhältnisse einstellen. So sind beispielsweise die Jahre 1989 - 1993 als gleichbleibend 'sehr abflußarm' einzustufen.

Berücksichtigt man die erwähnte Wirkung des Oberwassers auf den Feststofftransport, so kann davon ausgegangen werden, daß sich nach einem derartig langen Zeitraum gleichbleibend niedriger oder hoher Oberwasserführung eher signifikante Verlagerungen der Trübungszone oder Verschiebungen lokaler Baggerschwerpunkte ergeben werden, als in Zeiten, in denen die Oberwasserführung regelmäßig wechselt.

Zur Einschätzung ökologischer Wirkungen ist es aber auch wichtig zu wissen, ob sich Phasen hoher oder niedriger Oberwasserführung in bestimmten Jahreszeiten häufen. Diese Information läßt sich aus Tab. 4 entnehmen. So wird z.B. deutlich, daß hohes Oberwasser in den Monaten Juni bis November eines Jahres nur sehr selten auftritt. Ausnahmen bilden z.B. die Jahre 1980/81 (Juli/August) sowie 1986/87 (Juni).

Einen genauen Aufschluß über die Häufigkeit des Auftretens und die zeitliche Dauer der drei Oberwassersituationen gibt Tab. 5. Aus ihr ist zu entnehmen, daß jede der Oberwassersituationen zumeist nur bis zu einem Monat andauert, daß andererseits aber auch häufig einzelne extrem lange Zeitperioden mit hoher oder niedriger Oberwasserführung (nämlich 3mal bzw. 11mal) auftreten.

Es ist zu vermuten, daß die Phasen langandauernder niedriger oder hoher Oberwasserführung die nachhaltigsten Wirkungen auf die Lebensgemeinschaften ausüben. Dies wird aber nur dort der Fall sein, wo die oberwasserbedingten Änderungen wichtiger Einflußparameter, wie Salzgehalt, Überflutungsdauer, Hoch- und Niedrigwasserstandsgrenzen sowie Konzentrationsänderungen im Nährstoff-, Sauerstoff- und Schwebstoffgehalt deutlich über die tidebedingte Variationsbreite dieser Parameter hinausgehen.

Diese Information kann für jeden Elbabschnitt aus den Modellrechnungen der BAW-AK entnommen werden. In Verbindung mit der Oberwasserstatistik läßt sich dann aus hydrologischer Sicht die ökologische Relevanz der ausbaubedingten Veränderungen wichtiger Umweltfaktoren, vor dem Hintergrund der natürlichen Intensitätsschwankungen, realistisch einschätzen.

Fußnoten:

6.) Hier und im folgenden sind nicht im Textteil eingebundene Tabellen im "Anhang Tabellen" zu finden.