4.3 Makrozoobenthos Tideelbe
- Die Untersuchung beschränkte sich auf den Bereich des Sublitorals,
d. h. vom Flachwasser über den Hangbereich bis in das
Tief(st)wasser. Auf den Wattgebieten, zwischen der MThw-
und MTnw-Linie (Eulitoral), wurden keine eigenen Proben
entnommen (ausschließlich Literaturauswertung).
Insgesamt sind 110 Arten/Taxa aus der Gemeinschaft
der wirbellosen Bodenfauna im Untersuchungsraum der
Tideelbe 1993-95 dokumentiert; davon 51 Arten /Taxa in
der Außenelbe (Abschnitt VII) und 74 Arten/Taxa in der
Unterelbe (Abschnitt I-VI).
- Von den genuinen (= echten) Brackwasserarten,
einschließlich des Neueinwanderers Marenzelleria viridis
(Polychaeta; Spionidae), wurden 1993-95 sieben
Arten im Elbe-Ästuar gefunden, überwiegend Amphipoda (Crustacea).
- Das Makrozoobenthos der Unter- und oberen Tideelbe kann
als mehr oder minder verarmt bezeichnet werden - dies
betrifft in erster Linie die Molluskenfauna. Auch die
Artenvielfalt der Außenelbe ist im historischen
Vergleich rückläufig.
Die wirbellose Bodenfauna der Tideelbe stellt in ihrem
heutigen Zustand eine Gemeinschaft dar, für die
einerseits Opportunisten und andererseits Spezialisten
kennzeichnend sind. Charakteristisch für den status
quo sind Faunenelementen, die sich der
anthropogenen Überformung des Fließgewässers zwangsläufig,
aber optimal angepaßt haben.
- Typische Leitart im limnischen Abschnitt der oberen
Tideelbe ist Propappus volki (Propappidae;
Oligochaeta). Neben dieser Spezies sind Chironomidae und
Turbellaria mit hohen Populationsdichten vertreten.
- In der erweiterten Flachwasserzone des Oligohalinikums
dominieren euryhalin-limnische Oligochaeta, überwiegend
Arten aus der Gattung Limnodrilus sowie Potamothrix
moldaviensis (Tubificidae). Als typische
Tiefwasserorganismen siedeln Propappus volki und
diverse Enchytraeidae (Oligochaeta) in der Fahrrinne.
Weitere, repräsentative Vertreter in diesem schwach
wechselsalzigen Gebiet sind die genuinen Brackwasserarten
Bathyporeia pilosa, Gammarus zaddachi (Amphipoda)
und Cordylophora caspia (Hydrozoa). Erstmalig
konnte der Brackwasserpolychät Marenzelleria viridis
(Neueinwanderer) bis Strom-km (A) 648 in der Lühesander
Süderelbe und auf dem Nordhang der Unterelbe bei Fährmannssand
nachgewiesen werden.
- Elbeabwärts, im Mesohalinikum, sind Artenzahl und
Abundanz der euryhalin-limnischen Organismen naturgemäß
stark rückläufig. Neben holeuryhalinen Arten (Enchytraeidae)
dominiert die genuine Brackwasserfauna, und es treten
vermehrt euryhalin-marine Arten in den Vordergrund. Das
Arten- und Individuenminimum liegt auf Höhe der
Rhinplatte, in einem Gebiet intensivster und ständiger
Unterhaltungsbaggerungen. Der brackwasserbedingte Artenrückgang
fällt etwa in den Abschnitt zwischen Strom-km (A) 700
und 670; das Minimum liegt in Richtung des
Oligohalinikums
Aspektbildend für diese Brackwasserzone höheren
Salzgehaltes sind die euryhalin-marinen Polychäten Capitella
capitata, Eteone longa, Marenzelleria
viridis, Polydora ciliata und Pygospio
elegans. An genuinen Brackwasserarten dominieren Bathyporeia
pilosa, Corophium volutator, Gammarus
salinus und Gammarus zaddachi (Amphipoda) in
dem Bestand. Unter den Hydrozoa ist die Verbreitung von Obelia
longissima und Laomedea calceolifera (Campanulariidae)
stromauf bis über Strom-km (A) 670 hinaus durchaus
bemerkenswert.
- Um Cuxhaven und in der Außenelbe sind die marinen
Polychäten entsprechend der hohen Salinität verbreitet,
auch der Brackwasserpolychät Marenzelleria viridis
erreicht hohe Populationsdichten im Polyhalinikum.
Daneben treten vermehrt Muscheln auf, wie Cerastoderma
edule und Macoma balthica. Unter den
Amphipoden ist das Vorkommen von Haustorius arenarius
und verschiedener euryhalin-mariner Bathyporeia-Spezies
bedeutsam.
- Knapp 80 % der mittleren Individuenzahlen im
Untersuchungsraum liegen zwischen 1 x 103
und 1 x 104 Ind. m-2,
wobei die höchsten Werte im limnischen Bereich der
oberen Tideelbe ermittelt wurden (4 x 105 Ind.
m-2). Überdurchschnittlich hohe Abundanzen
mit 1 x 105 bzw. 1 x 104 Ind. m-2
wurden einerseits im Mesohalinikum bei Strom-km (A) 723
und andererseits im Bereich der oberen Brackwassergrenze
bei Lühesand (Strom-km (A) 648) festgestellt.
- Die Angaben zur Gesamtbiomasse (AFTG) repräsentieren
stets einen unteren Wert, da die zahlenmäßig
geringen Molluskenfunde in die Berechnung nicht
eingegangen sind. Diesbezügliche Aussagen beziehen sich
insofern auf Nematoda, Turbellaria, Oligochaeta,
Polychaeta und Amphipoda.
Die Gesamtbiomasse der wirbellosen Bodenfauna differiert
im Zusammenhang mit Besiedlungsdichte und -struktur im Längsschnitt
erheblich. Vom äußeren Ästuar stromauf nimmt der
Anteil der Polychäten an der Gesamtbiomasse zwangsläufig
ab, während umgekehrt der hohe Anteil der Oligochäten
zum Süßwasser hin zunimmt. Im Mündungsbereich um
Cuxhaven spielt der Biomasse-Anteil der Amphipoden eine
nicht zu vernachlässigende Rolle.
Über 50 % der mittleren Gesamtbiomassen (AFTG) waren
kleiner 100 mg m-2, über 40 % lagen zwischen
102 bis 103
mg m-2 , ein einzelner Durchschnittswert überschritt
7 x 103 mg m-2. In der oberen
Tideelbe wurden mittlere Gesamtbiomassen in der Größenordnung
103 mg m-2
erreicht. Zwischen Strom-km (A) 642 und 700 waren die
Mittelwerte des AFTG im allg. kleiner 100 mg m-2.
Auf der Baggergutablagerungsfläche Scheelenkuhlen (Strom-km
(A) 685) wurde dagegen eine Gesamtbiomasse von rd. 1 x 103 mg m-2 ermittelt.
In der Tendenz zeigte sich seewärts Strom-km (A) 715 ein
Anstieg dieses Parameters bis auf maximal 7 x 103 mg m-2.
- Auf den verschiedenen Flach- und Tiefwasser-Stationen der
Querschnitte Pagensand (Strom-km (A) 664) und Lühesand
(Strom-km (A) 648) sind die mittleren Arten-, Individuen-
und Biomassezahlen auf signifikante Unterschiede geprüft
worden. Grundsätzlich stellte sich heraus, daß die Mittelwertdifferenzen
zwischen den Datenkollektiven zufällig waren.
Infolgedessen ist die Schlußfolgerug zutreffend, daß
hinsichtlich der genannten Parameter sowohl zwischen
Nebenelben- und Fahrwasserstationen als auch zwischen
Flachwasser- und Tiefstwasserbereichen keine
statistisch gesicherten Unterschiede existieren.
Ein analoges Ergebnis erbrachte die Prüfung
vergleichbarer Stationen (Fahrrinne, Nebenelben, Flach-
und Tiefwasser) zwischen den beiden Querprofilen. Überraschenderweise
sind die Nebenelben unter der MTnw- Linie nicht durch höhere
Artenzahlen, Besiedlungsdichten oder Biomassen
gekennzeichnet. Ebenso ist die durchschnittliche Höhe
dieser Parameter für die Fahrrinne erstaunlich. Ein
Befund, der in diesem Sinne nicht ganz neu ist, aber
symptomatisch für die allgemeine Unterschätzung der
Bedeutung der Fahrrinne als Siedlungsraum.
- Im Rahmen der Untersuchung wurden die Auswirkungen der
Unterhaltungsbaggerung auf das Wiederbesiedlungsvermögen
der wirbellosen Bodenfauna analysiert. Zusammenfassend läßt
sich aus den vorgefundenen Populationsstrukturen
ableiten, daß die Regenerationsfähigkeit im Gebiet Rhinplatte
mit den konstant höchsten Sandentnahmen am geringsten
war. Entsprechend waren das Arten- und
Individuenminimum auf diesen Baggerflächen lokalisiert.
Das ursprünglich elastische System ist durch die ständigen
Störungen weitgehend erschöpft, die vorhandene
Restfauna entspricht einer "Notgemeinschaft"
von wenigen Allerweltsarten und Opportunisten. Im Gebiet Pagensand,
mit so gut wie keiner Sedimententnahme, wurde dagegen die
höchste Wiederbesiedlungsfähigkeit ermittelt. In
Relation zu den oben genannten Elbe-Abschnitten nahmen
die Baggerbereiche Juelssand eine Mittelstellung
ein. Das Regenerationspotential dieser benthischen
Wirbellosengemeinschaft ist im Vergleich mit dem der
Rhinplatte höher zu bewerten.
- Die Lage der oberen Brackwassergrenze ist nach
Auswertung der benthischen Artenstruktur auf Strom-km
(A) 648 (= Lühesand) festzulegen. Die
Zusammensetzung der wirbellosen Bodenfauna im Längsprofil
1993-95 wurde mit zeitgenössischen
Zoobenthosuntersuchungen nach 1978 verglichen.
Das Aufwandern verschiedener genuiner und euryhalin-mariner
Brackwasser-Arten bzw. die Neubesiedlung in historisch
als unbesiedelbar angesehenen Regionen, kann zwangsläufig
nur mit einer dauerhaften Verschiebung der oberen
Brackwassergrenze stromaufwärts erfolgt sein.
Im historischen Vergleich zeigt sich sehr deutlich, daß
seit 1950 - mit Beginn der Fahrrinnenvertiefungen - die
Bodenfauna mit der oberen Brackwassergrenze elbeaufwärts
gewandert ist, unabhängig von wechselnden
Oberwasserszenarien. Der Trend mit einem deutlichen
Einschnitt in den 50-er Jahren ist langfristig zu
beobachten. Es ist auszuschliessen, daß es sich um eine
kurzfristige Besiedlungsstrategie handelt, sondern im
Gegenteil davon auszugehen, daß sich lokale
Standortrassen herausgebildet und durch individuelle
Adaptation den schwach wechselsalzigen Bedingungen im
unteren Oligohalinikum angepaßt haben.
- Im Bereich seewärts von Pagensand deutet
die Ausbreitung von euryhalin-marinen Polychäten (ohne
Berücksichtigung des Brackwasserpolychäten Marenzelleria
viridis) und der tendenzielle Rückzug euryhalin-limnischer
Oligochäten ebenfalls auf einen Anstieg der
mittleren Salinität hin.
In der Kernzone des Meso- und Polyhalinikums
hat sich im Vergleich zu früheren Untersuchungen grundsätzlich
wenig geändert. Im großen und ganzen entsprach
die qualitative und quantitative Verbreitung der
dominanten und subdominanten Arten den vor 20 bis 30
Jahren ermittelten Befunden.
- Heute stellt die Tideelbe ein von seinen Überflutungsräumen
abgeschnittenes und stark übertieftes Restökosystem
dar, welches u. a. durch geringe Flachwasseranteile,
verarmte Habitatstrukturen und gestörte
Lebensgemeinschaften gekennzeichnet ist.
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