Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt

6.8 Schlußbemerkung

Die Prognose zur Umweltverträglichkeitsuntersuchung über die Beeinträchtigung der aquatischen Lebensgemeinschaften hat ergeben, daß unter allen Eingriffen und deren Auswirkungen in der durch Ausbaumaßnahmen der Vergangenheit sehr stark vorbelasteten Tideelbe

-die Baggerarbeiten während der Baumaßnahme, aber auch in Verbindung mit den zukünftigen Unterhaltungsbaggerungen und
- die Ausbauverklappungen von Baggermaterial, vor allem die Unterbringung eines großen Teiles davon auf der Brammer Bank (Alternative zum Spülfeld Pagensand),

die aquatischen Lebensgemeinschaften am stärksten betreffen werden. Dies gilt vor allem für die wirbellose Bodenfauna, die während dieser Eingriffe aus den betroffenen Biotopen entweder kurzfristig eliminiert oder dauerhaft verdrängt wird.

Während des Ausbaues werden durch Baggerungen 1.632 ha und außerdem durch Verklappungen 538 ha Fläche erheblich beeinträchtigt werden. Das sind zusammen 2.170 ha. Hiervon sind 34 ha als erheblich und nachhaltig beeinträchtigt einzustufen (ohne alternatives Spülfeld Brammer Bank).

Durch die Vertiefung und die Querschnittsaufweitung sowie den damit verbundenen Hanganschnitt erhöht sich lokal der zukünftige Unterhaltungsaufwand - insbesondere in einzelnen Abschnitten der Revierstrecke des WSA Hamburg. Hieraus resultieren zusätzlich erhebliche und nachhaltige Auswirkungen auf das Zoobenthos. Auf rd. 378 ha Fläche mit erhöhter Unterhaltungsbaggerung sind die Auswirkungen erheblich, davon sind wiederum fast 75% (rd. 278 ha) außerdem noch nachhaltig betroffen. Darüber hinaus wird sich mit dem Ausbau die Sedimenttypologie der Unterwasserböschungen (vorwiegend nördlicher Geesthang) auf rd. 157 ha deutlich negativ (erheblich) und langfristig (nachhaltig) verändern.

Die geplanten Aufspülungen auf der Insel Pagensand führen für die gesamte aquatische Biozönose zu einem Flächenverlust von ca. 2 ha. Auf der von der geplanten Aufspülung betroffenen Brammer Bank (Alternative zum Spülfeld Pagensand) werden 249 ha Tiefwasser, Flachwasser und Watt verloren gehen. In beiden Fällen ist der Verlust als erheblich und nachhaltig einzustufen. Bedingt durch die Vorschädigung des Gebietes durch Ausbau und Eindeichung sind vor allem die Watt- und Flachwasserflächen in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt stark zurückgegangen. Mit der möglichen Aufspülung auf der Brammer Bank würde ein weiteres strukturreiches Watt- und Flachwassergebiet zerstört. Es ist daher aus Sicht der Hydrobiologie dringend geboten, für mögliche Biotopverluste an der Brammer Bank im Verhältnis 1 : 1 Ersatz zu schaffen.

Weitere erhebliche und z.T. nachhaltige Auswirkungen entstehen durch den Anstieg des MThw und den daraus resultierenden Verlust von Flußwattröhricht in einer Größenordnung von 27 ha. Dies betrifft vor allem die Lebensgemeinschaften Phytobenthos und Fische.

Karte A2 (Anhang) zeigt im Überblick alle Flächen, für die erhebliche und/oder nachhaltige Beeinträchtigungen im Untersuchungsgebiet prognostiziert werden.

Vorbelastungen eines Ökosystems durch vorangegangene Eingriffe werden bei der Beurteilung der Eingriffsfolgen im Rahmen der UVU nicht berücksichtigt. Völlig unabhängig von dieser Rechtlage sind sie aber ökologisch von großer Bedeutung, zumal dann, wenn aufeinanderfolgende Eingriffe zwar kleine, in der Folge sich aber summierende Auswirkungen haben. Sehr starke Vorbelastungen bestehen in der Elbe seit dem vergangenen Jahrhundert und sind seither in regelmäßigen Abständen durch Vertiefungen und Ausbaumaßnahmen vergrößert worden.

In der Tideelbe betrifft dies:

- Veränderungen der Gewässertiefe,
- Veränderungen des Verhältnisses von Volumen zu Oberfläche sowie
- die mit der Vertiefung und dem nicht quantifizierbaren hydrologisch-morphologischen Nachlauf verbundene langfristige Entwicklung der Ausdehnung

- der Flachwassergebiete, die tendenziell abnehmen,
-sowie der Wattgebiete, die tendenziell in einigen Bereichen auf Kosten der Flach- wassergebiete zunehmen,
- der Vordeichländer, die durch den veränderten Tidenhub, tendenziell kleiner werden und durch die Deichlinie begrenzt sind.

Wie in der Prognose ausführlich dargelegt, können weitere Effekte über die eingangs aufgeführten, schwerwiegenden Eingriffsfolgen hinaus, Risiken einer die ökologische Situation der Elbe verschlechternden Fortentwicklung in sich bergen. Diese Risiken mögen jedes für sich genommen nur geringe Auswirkungen haben und vielleicht zu keinen großflächigen Beeinträchtigungen führen. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, daß diese Effekte synergistisch wirken, d.h. sich in ihren Auswirkungen nicht nur addieren, sondern sich auch noch gegenseitig verstärken.

Zu diesen Effekten gehören beispielsweise

- die Vertiefung selbst und ihr weiterer Einfluß auf das Lichtklima und damit auf Phytoplankton und Sauerstoffhaushalt,
- Änderungen des Tidehubes und der damit verbundenen Absenkungen des Tideniedrigwassers und Erhöhungen des Tidehochwassers in ihrer Auswirkung auf die Watt- und Litoralgemeinschaften,
- zeitweilige oder dauerhafte Verlagerungen des Brackwassergebietes weiter stromaufwärts, die den Trend zur ausbaubedingten Verkleinerung des limnischen Tidegebietes weiter fortsetzen,
- die Auswirkung erhöhter Schwebstoffgehalte bei Baggerung und Verklappung auf die Primärproduktion und die Folgeglieder des Nahrungsnetzes,
- der Einfluß ausbaubedingt erhöhter Unterhaltungsbaggerungen- und Verklappungen.

Gebiete in denen lokal begrenzte Beeinträchtigungsrisiken bestehen sind zusammenfassend in Karte A2 in Anhang dargestellt.

Die bisherigen Vertiefungen und der Ausbau des Stromes haben zu einer Verstärkung von Erosion und Resuspension in der vertieften Fahrrinne und zur Verstärkung der Sedimentation in den Flachwasser- und Wattgebieten geführt. Flachwasser- und Wattgebiete gehören aber zu den für die Entwicklung und den Aufenthalt beweglicher Tiere, welche den erhöhten Strömungsgeschwindigkeiten in der Fahrrinne nicht standhalten können, wichtigen Wohn- und Rückzugsgebieten.

Die flacheren Seitenräume des Gewässers mit geringeren Strömungsgeschwindigkeiten und längeren Aufenthaltszeiten des Wassers, hier vor allem die Priele und Nebenelben, sind in ihrer Ausdehnung und Tiefe stark zurück gegangen, viele Nebenelben nahezu oder praktisch völlig verlandet, ein Prozeß, der noch heute anhält und durch die neue Baumaßnahme weiter verstärkt werden wird. Dadurch sind viele wertvolle Lebensräume dem Strom entweder bereits verlorengegangen oder sind in der Gefahr, in absehbarer Zeit verloren zu gehen. Hierzu gehören z. B. die Hahnöfer Nebenelbe, das Mühlenberger Loch, die Haseldorfer Binnenelbe samt Dwarsloch, das Wischhafener Fahrwasser, die Nebenelbe am Schwarztonnensand, die abgedeichte Wischhafener Süderelbe, der Ruthenstrom u. a. Dies bedroht langfristig die für die Entwicklung aller Lebensgemeinschaften der Tideelbe wichtigen Aufwuchs-, Weide- und Rückzugsgebiete.

Synergistische Wirkungen können sich besonders dort ergeben, wo sich gleichzeitig mehrere Umweltbedingungen für eine bestimmte Organismengruppe verschlechtern, oder wo die Verschlechterung eines Umweltfaktors gleichzeitig auf mehrere Glieder im Nahrungsgefüge des Gewässers einwirkt.

So sind zum Beispiel Gebiete im limnischen Abschnitt der Tideelbe betroffen von erhöhten Schwebstoffgehalten während und nach der Baumaßnahme mit ihren negativen Auswirkungen auf die Primär- und Sekundärproduzenten. Zusätzlich werden in diesem Gebiet die größten Tidenhubänderungen prognostiziert, was zu einer Reduzierung der für Phyto- und Zooplankton lebenswichtigen Flachwassergebiete führen kann. Dies wiederum verschlechtert die Aufwuchsbedingungen vieler Jungfische, die nicht zuletzt die Nahrungsgrundlage verschiedener Wattvögel bilden.

Ausbaubaggerung und Verklappung schädigen nicht nur großräumig die im Sediment der Fahrrinne siedelnden Organismen, sondern entziehen gleichzeitig den in der Fahrrinne lebenden Fischen einen Teil ihrer Nahrungsgrundlage

Es ist an der Zeit, gerade bei Durchführung einer erneuten, die negative Entwicklung fortsetzenden Eingriffsmaßnahme, sowohl über ökologisch sinnvolle Eingriffsminderungen als auch über Verbesserungen der ökologischen Situation des vorbelasteten Stromsystems insgesamt nachzudenken.

Aus der Sicht der Hydrobiologie sind Minderungen der Eingriffsfolgen z. B. durch

- Schaffung und Stabilisierung ausgedehnter Flachwassergebiete im Bereich der Seitenräume und den
- Erhalt und/oder die Wiederöffnung der o. g. Nebenelben mit ihrer wichtigen Funktion als strömungsberuhigte Biotope und Retentionsräume möglich und dringend erforderlich.

Obwohl nicht verkannt wird, daß Deichrücknahmen derzeit politisch weder gewollt noch durchsetzbar sein dürften, wäre dies, z. B. im Bereich der Haseldorfer Marsch, eine aus hydrobiologischer Sicht sinnvolle Ersatzmaßnahme.

Viele der in der Prognose gemachten Aussagen, vor allem über die Risiken der Eingriffe, sind mit großen Unsicherheiten behaftet. Viele der Folgen der Baumaßnahmen sind methodischen Gründen bis heute nicht quantifizierbar, der morphologische Nachlauf der Maßnahmen entzieht sich einer Prognose und Ausbaumaßnahmen nach der Maßnahme sind aufgrund der dann erst sichtbar werdenden wasserbaulichen Notwendigkeiten heute nur in Grenzen absehbar. Aus hydrobiologischer Sicht ist es daher dringend erforderlich, für die Zeit vor, während und langfristig nach den Maßnahmen Überlegungen im Hinblick auf maßnahmenbegleitende Untersuchungen (Bio-Monitoring) anzustellen. So lassen sich Entwicklungen und Auswirkungen, die heute nicht erkannt werden können, rechtzeitig bemerken, beobachtend und messend verfolgen und durch spätere, ökologisch sinnvolle Ausgleichsmaßnahmen mindern oder beheben.

Dies zusammengenommen könnte dazu führen, daß langfristig das Ökosystem Tideelbe nicht nur geschädigt, sondern dort, wo es zu leisten ist, gegenüber dem heutigen Zustand merklich verbessert werden könnte. Damit wäre außerdem ein sowohl sinnvoller als auch wünschenswerter Anfang zur Minderung der bisherigen Zielkonflikte gemacht.

Im übrigen ist es zu begrüßen, daß die Planungen zur Anpassung an die Containerschiffahrt der 90er-Jahre im Gegensatz zu den vorangegangenen Ausbauphasen mit ihren bekannten nachteiligen Folgen für die Tideelbe, grundsätzlich das Ziel haben, die Auswirkungen der Maßnahme, vor allem auf den Tidenhub, zu minimieren. Obwohl dieses Ziel nach den Prognosen des hydromechanischen Gutachtens weitgehend erreicht werden dürfte, bleibt der neuerliche Ausbau der Tideelbe aus der Sicht der Hydrobiologie nicht ohne nachteilige Folgen für das Ökosystem des Elbeästuars.

 

Hamburg, den 24.04.1997

(Prof. Dr. H. Kausch)
(Dipl.-Biol. H.-J. Krieg)