Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt

5 BEWERTUNG DES IST-ZUSTANDES

5.1 Einführung

5.1.1 Einführung in die Bewertungsmethodik

Der Gesetzgeber fordert im UVPG, daß im Genehmigungsverfahren Aussagen über die zu erwartenden erheblichen Auswirkungen des geplanten Vorhabens auf die Schutzgüter gemacht werden. Die Einschätzung dieser Auswirkungen beruhen auf einer Bewertung, in die grundsätzlich, im Gegensatz zur Sachaussage, auch subjektive Elemente einfließen können (BfG, 1994). Eine solche Bewertung gliedert sich folgerichtig in zwei Teile: Um die Auswirkungen eines Vorhabens beschreiben zu können, muß zunächst der Zustand des jeweiligen Schutzgutes bewertet werden. Erst im Anschluß daran ist die Bewertung der Auswirkungen des Vorhabens auf das Schutzgut möglich.

Jede Form einer Bewertung setzt voraus, daß ein Maßstab existiert, der eine Bewertung des Zustandes des jeweiligen Schutzgutes vor und nach der Durchführung des geplanten Vorhabens erlaubt. Dieser setzt sich aus einer Vielzahl von Bewertungskriterien zusammen, welche speziell für die einzelnen Schutzgüter definiert werden müssen.

Im Rahmen der vorliegenden UVU sollte, unabhängig vom zu bewertenden Schutzgut, ein fünfstufiger Bewertungsmaßstab angewendet werden, wobei die Stufe eins das Optimum und die Stufe fünf das Pessimum des Maßstabes repräsentieren.

Die Definition des Optimums der Bewertungsskala erfordert ein sogenanntes Zielsystem, in welchem der für das jeweilige Schutzgut erwünschte Zustand beschrieben wird, und welches aufzeigt, wie der bestehende Zustand des jeweiligen Schutzgutes nach Möglichkeit zu verbessern ist.

Für die Erstellung eines solchen Zielsystems gibt es im Rahmen von Fließgewässern mit Tideeinfluß bisher keine allgemein anerkannte Methode. Der Grund für das Fehlen einheitlicher Vorgaben für die Bewertung von Fließgewässern ist darin zu sehen, daß es, wie BRAUKMANN (1992) formuliert, einen natürlichen Einheitszustand von Fließgewässern nicht gibt.

Grundsätzlich lassen sich zwei Extreme beschreiben, nach denen sich ein Zielsystem entwickeln ließe. Zunächst besteht die Möglichkeit, sich den ursprünglichen Zustand des betrachteten Ökosystems vor jeglicher anthropogener Beeinflussung vorzustellen und diesen als Optimum der Bewertungsskala zu definieren. Diese Vorgehensweise erscheint problematisch, weil zum einen das Wissen über einen solchen ursprünglichen Zustand z.T. sehr lückenhaft ist, und weil zum anderen jedes Ökosystem, welches von menschlicher Aktivität beeinflußt ist, zwangsläufig als minderwertig bewertet werden müßte.

Die andere Möglichkeit, das Zielsystem festzulegen besteht darin, die heutige anthropogene Nutzung des Ökosystems als Bestandteil desselben als gegeben und notwendig hinzunehmen. Innerhalb eines solchen Bewertungsrahmens wäre das Optimum definiert durch eine bestimmte Anzahl planerisch und politisch realisierbarer Maßnahmen, die das bestehende Ökosystem in einen "naturnäheren" Zustand versetzen. Der Nachteil eines solchen Verfahrens liegt auf der Hand: Ein bereits völlig naturfernes, anthropogen überformtes Ökosystem könnte dennoch als wertvoll gelten, da der überwiegende Teil bereits erfolgter Schädigungen Element des Zielzustandes ist.

Zwischen den oben geschilderten Verfahrensweisen kann nur ein Kompromiß zu einem sinnvollen und auch anwendbaren Bewertungsmaßstab führen. FRIEDRICH (1992) schlägt als Kompromiß vor, das Zielsystem als einen sogenannten "potentiell natürlichen Zustand" zu definieren. Diesen strebt jedes Ökosystem an, wenn alle menschlichen Aktivitäten eingestellt würden. Das Konzept von Friedrich beruht vor allem auf der Überlegung, daß denaturierende Eingriffe zwar nicht völlig reversibel sind, der durch sie bestimmte Zustand aber nicht zwangsläufig hingenommen werden muß. Das Zielsystem und somit das Optimum einer unter dieser Prämisse erstellten Bewertungsskala beschreibt also allenfalls einen "mittleren Natürlichkeitsgrad". Es ist klar, daß auch dieses Bewertungssystem Probleme aufwirft, sobald es in die Praxis umgesetzt werden muß, da zumindest im ökologischen Zusammenhang wissenschaftlich exakte Aussagen darüber, in welche Richtung sich ein System ohne anthropogene Beeinflussung entwickeln würde, schwer zu treffen sind.

Die vorliegende Bewertung des Zustandes der aquatischen Lebensgemeinschaft der Tideelbe setzt aber die Überlegungen von FRIEDRICH (1992) insoweit in die Praxis um, als ihr Zielsystem sowohl Bewertungskriterien beinhaltet, die sich an einem historischen Zustand orientieren, welcher nicht weiter als 100 Jahre zurückliegt (und somit den anthropogenen Eingriffen ins System Rechnung trägt), als auch solche, die einen aus schutzgutbezogener Sicht wünschenswerten Zustand des Ökosystems beschreiben. Der Kriterienkatalog stellt also eine Mischung aus "meßbaren" und subjektiven Kriterien dar.

Es soll in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen werden, daß die Bewertung eines biologischen Systems im Sinne einer "schulischen Benotung" ein für Biologen noch immer ungewohntes und vor allem problematisches Verfahren ist, da es nur teilweise naturwissenschaftlich begründbar ist. Die Schwierigkeit entsteht aus der Forderung von Behörden-Sachbearbeitern, Landschaftsplanern oder auch Juristen an den Biologen, möglichst leicht verständliche und vor allem handhabbare Bewertungsmaßstäbe und Bewertungen vorzulegen, die den "Wert" von Biotopen zuverlässig darstellen. Dies hat dazu geführt, daß offenbar jeder Ansatz als Bewertung gilt, der eine flächenbezogene, kartographisch darstellbare Differenzierung eines Untersuchungsraumes ermöglicht (SCHERNER, 1994). Die Vorstellung, daß durch eine wie auch immer gestaltete Quantifizierung automatisch auch eine objektive Darstellung der komplexen biologischen Realität erreicht wird, muß zumindest in Frage gestellt werden.

 

5.1.2 Einführung in den Kriterienkatalog

Die Bewertung der aquatischen Lebensgemeinschaft wird für fünf Lebensgemeinschaften anhand eines Kriterienkataloges vorgenommen. Diese Lebensgemeinschaften sind: Phytoplankton, Phytobenthos, Zooplankton, Zoobenthos und Fische.

Der Kriterienkatalog für die Bewertung der aquatischen Lebensgemeinschaft orientiert sich teilweise an dem Gutachten von ORTEGA et al. 1994 (Hydrobiologische Untersuchungen im Hamburger Hafen). Einige der Kriterien, welche im zitierten Gutachten zur Bewertung herangezogen werden, lassen sich auf das Untersuchungsgebiet der vorliegenden UVU nicht ohne weiteres übertragen und sind daher entweder modifiziert oder gar nicht verwendet worden. Der Katalog gliedert sich in drei Kriteriengruppen:

1. Lebensraumtypische Faktoren

Die Bewertung einer Organismengemeinschaft in einem bestimmten Untersuchungsraum kann nicht außer acht lassen, welche abiotischen und biotischen Voraussetzungen zu der Ausprägung der Gemeinschaft in der heutigen Form geführt haben. Unter dem Überbegriff "lebensraumtypische Faktoren" werden abiotische und biotische Parameter beschrieben und bewertet, welche den Lebensraum der aquatischen Organismen kennzeichnen.

Insgesamt werden 13 Bewertungskriterien aufgestellt. In die Bewertung gehen überwiegend historische Daten ein, welche in den meisten Fällen eine Bewertung des heutigen Zustandes mittels "meßbarer" Daten auf einer Skala mit mathematisch voneinander abgrenzbaren Wertstufen erlauben. Die Bewertung dieser ökologischen Randbedingungen wird nicht für jede Lebensgemeinschaft separat durchgeführt, da alle Lebensgemeinschaften in ihrer Zusammensetzung und Dynamik durch die selben Randbedingungen geprägt werden. Allerdings sind die 13 Einzelkriterien für die fünf verschiedenen Lebensgemeinschaften von unterschiedlicher Bedeutung. Diesem Umstand wird in der zusammenfassenden Bewertung der lebensraumtypischen Faktoren eines Untersuchungsabschnittes in Verbindung mit der jeweiligen Lebensgemeinschaft Rechnung getragen.

2. Artniveau

Die in dieser Kriteriengruppe aufgestellten Bewertungskriterien befassen sich mit der Artenzusammensetzung der jeweiligen Lebensgemeinschaft im Untersuchungsgebiet und auftretenden Besonderheiten (wie z. B. Arten der roten Listen) innerhalb dieser Gruppe. Sowohl der Kriterienkatalog als auch die Bewertungsskala werden für jede Lebensgemeinschaft separat definiert, da die Informationsbasis für die Beschreibung der verschiedenen Lebensgemeinschaften sehr unterschiedlich ist. In die Bewertung gehen teilweise historische Angaben über Artvorkommen und Verbreitung ein, teilweise aber auch nur aktuelle Angaben.

Zwei Hauptkriterien kommen zur Anwendung:

- Die Beschreibung des Arteninventars
- Das Vorkommen schutzbedürftiger Arten

3. Ökologische Funktion

Für die Bewertung der ökologischen Funktion eines Untersuchungsabschnittes werden fünf Bewertungskriterien aufgestellt, die die Verflechtungen der jeweiligen Lebensgemeinschaft mit ihrem Lebensraum beschreiben.

Der Kriterienkatalog für die ökologische Funktion des Lebensraumes umfaßt im Prinzip für alle fünf Lebensgemeinschaften die selben Kriterien, die Wertstufen werden jedoch für jede Lebensgemeinschaft auf unterschiedliche Weise festgelegt, da für die Beschreibung der jeweiligen ökologischen Funktion ganz verschiedene Parameter zur Anwendung kommen. Einige der Bewertungskriterien sind nicht auf alle Lebensgemeinschaften anwendbar, und entfallen daher bei der entsprechenden Bewertung.

Die fünf Bewertungskriterien für die ökologische Funktion sind:

- Funktion des Untersuchungsabschnittes als Reproduktionsgebiet:
Welche Bedingungen bietet der Untersuchungsabschnitt den Lebensgemeinschaften für ihre Reproduktion?

- Funktion des Untersuchungsabschnittes für die Ernährung der Biozönose:
Welche Ernährungsbedingungen finden die Lebensgemeinschaften im Untersuchungsabschnitt vor?

- Vernetzungen innerhalb des Untersuchungsabschnittes:
Gibt es im Untersuchungsabschnitt Bereiche, in denen die Lebensbedingungen für die elbtypischen Lebensgemeinschaften überdurchschnittlich gut sind und die aufgrund dieser Eigenschaften zur Sicherung des Artenbestandes im Untersuchungsabschnitt beitragen?

- Funktion des Untersuchungsabschnittes als Rückzugsgebiet (nur Fische):
Gibt es im Untersuchungsabschnitt geschützte Bereiche, in die sich Charakterarten der Lebensgemeinschaften bei Verschlechterung der Umweltbedingungen zurückziehen können?

- Wiederherstellbarkeit (Wiederbesiedlungspotential) der Biozönose im Untersuchungsabschnitt:
Wie schnell können die Lebensgemeinschaften eines Untersuchungsabschnittes, eine Störung kompensieren? Kurzfristig wiederherstellbare Lebensgemeinschaften sind gegenüber nur langfristig wiederherstellbaren als weniger empfindlich anzusehen.

5.1.3 Skalierung und Anwendung des Bewertungsmaßstabes

Der Bewertungsmaßstab wird nach Übereinkunft mit allen Fachgutachtern der UVU in eine fünfstufige ordinale Werteskala eingeteilt. Sehr hohe Wertigkeit stellt das Optimum dar, sehr geringe Wertigkeit das Pessimum. Es ergibt sich ein Kriterienkatalog der allgemeinen Form wie in Tabelle 5.1.4.1 dargestellt.

Tab. 5.1.3.1: Allgemeine Form des Kriterienkatalogs

1. LEBENSRAUMTYPISCHE Faktoren sehr hohe
Wertigkeit
Hohe
Wertigkeit
mittlere
Wertigkeit
geringe
Wertigkeit
sehr geringe
Wertigkeit
Kriterien zu 1          
2. Artniveau          
Kriterien zu 2          
3. Ökologische

Funktion

         
Kriterien zu 3          

Jeder Untersuchungsabschnitt erhält eine Endnote (zusammenfassende Bewertung) in bezug auf jede der fünf Lebensgemeinschaften.

Die Einzelkriterien werden im Fall der "Lebensraumtypischen Faktoren" entsprechend ihrer Bedeutung für die Lebensgemeinschaft zu einer Gesamtwertigkeit für diese Kriteriengruppe zusammengefaßt. Die Kriterien der Kriteriengruppen "Artniveau" und "Ökologische Funktion" können in der abschließenden Bewertung eines Untersuchungsabschnittes unterschiedlich stark berücksichtigt sein, je nach ihrer Bedeutung für die einzelne Lebensgemeinschaft. Die Herleitung der zusammenfassenden Bewertung der einzelnen Lebensgemeinschaften wird verbal-argumentativ begründet.

 

5.1.4 Einteilung des Untersuchungsgebietes

Das Untersuchungsgebiet ist definitionsgemäß in sieben Untersuchungsabschnitte (UA I - UA VII) aufgeteilt, wobei eine Bewertung jedes einzelnen Abschnittes angestrebt wird. Eine solche Bewertung der sieben Untersuchungsabschnitte läßt sich mit den Parametern der Kriteriengruppe "Lebensraumtypische Faktoren" ohne weiteres durchführen.

Für die Organismen, deren Lebensraum das Wasser ist, und deren Verbreitung von den physikalischen und chemischen Eigenschaften des Wassers mitbestimmt ist, erscheint eine solche geographische Einteilung des Untersuchungsgebietes jedoch zunächst nicht sinnvoll. Einer der maßgeblichen Parameter für Verteilung und Artenzusammensetzung der Lebensgemeinschaften in der Tideelbe ist der Salzgehalt. Die verschiedenen Lebensgemeinschaften sind in ihrer räumlichen Verbreitung also zunächst vier Salzgehaltszonen zugeordnet. Die Einteilung dieser Salzgehaltszonen folgt der Definition des Venice-Systems (CASPERS, 1959):

1. Limnische Zone: Salzgehalt < 0,5 ‰
2. Oligohaline Zone: Salzgehalt 0,5 bis 5 ‰
3. Mesohaline Zone: Salzgehalt 5 bis 18 ‰
4. Polyhaline Zone: Salzgehalt > 18 ‰.

Da die Position dieser Zonen in der Elbe in Abhängigkeit von Oberwasserzufluß, Tidegeschehen und Windeinfluß schwankt, müssen Rahmenbedingungen festgelegt werden, welche die Position der Halinitätszonen für die Bewertung festlegen. Diese Rahmenbedingungen wurden so gewählt, daß sie den (aus ökologischer Sicht) "worst case" nämlich das weitestmögliche Vordringen der Brackwasserzone in die Tideelbe beschreiben. Von den im Gutachten der BAW zur Hydromechanik (MATERIALBAND I) dargestellten Szenarien wurde hierfür der Analysezeitraum vom 1.7.1992 (5.40 Uhr) bis zum 5.7.1992 (14.40 Uhr) ausgewählt. Dieser beschreibt einen Spring-Nipp-Zyklus bei niedrigem Oberwasserzufluß. Unter diesen Bedingungen ergibt sich für die Halinitätszonen in etwa folgende geographische Position:

1. Limnische Zone: Von Strom-km (A) 586 bis 645
2. Oligohaline Zone: Von Strom-km (A) 645 bis 680
3. Mesohaline Zone: Von Strom-km (A) 680 bis 705
4. Polyhaline Zone: Von Strom-km (A) 705 bis Untersuchungsgebietsgrenze.

Die limnische Zone umfaßt in etwa die Untersuchungsabschnitte I bis III, die oligohaline Zone UA IV, die mesohaline Zone UA V und die polyhaline Zone UA VI und UA VII (siehe dazu auch Karte A1 im Anhang).

Eine Bewertung der UVU-relevanten Nebenflüsse wird nicht vorgenommen. Wie oben (Kap. 5.1.1) beschrieben ergibt sich die Bewertung eines beliebigen Gewässers erst durch die Erstellung eines speziell auf dieses Gewässer zugeschnittenen Zielsystems. Das Aufstellen eines Zielsystems und eines entsprechenden Bewertungsrahmens für jeden einzelnen Nebenfluß hätte den Zeitrahmen einer UVU in jedem Falle geprengt.