Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt

3.3 Zooplankton

Im Rahmen der UVU wurden keine eigenen Zooplanktonuntersuchungen durchgeführt. Die beschriebenen Artenverteilungen sowie die saisonalen und tidebedingten Variabilitäten des Zooplanktons (Kap. 2.6.1) beruhen somit ausschließlich auf Literaturdaten.

Auf Grund der erwähnten methodisch bedingten Differenzen ist eine Einschätzung der möglichen bisherigen Veränderungen der Zooplanktonbiozönosen nur bedingt möglich. Dennoch konnten einige Erkenntnisse festgehalten werden, welche seit den fünfziger Jahren unverändert Bestand haben:

Die Tide-Elbe verfügt über eine ästuartypische, artenarme planktische Fauna mit einem durch das Absterben limnischer und mariner Organismen hervorgerufenen Artenminimum in der Brackwasserzone (vgl. REMANE & SCHLIEPER, 1958). Wenige sehr euryöke Arten können in diesem extremen Lebensraum dennoch weit verteilt sein und hohe Individuendichten erreichen. Die Copepoden, insbesondere die calanoiden Gattungen Acartia und Eurytemora, stellen allgemein die dominierende Organismengruppe innerhalb des Zooplanktons der Ästuare dar (MILLER, 1983).

Eurytemora affinis stellt in allen in der Literatur beschriebenen Tide-Elbe-Untersuchungen den dominierenden Zooplankter dar. Der Copepode wird als "echter Brackwasserorganismus" bezeichnet und ist in der nördlichen Hemisphäre weit verbreitet, so z.B. auch in der Ostsee (VUORINEN & RANTA, 1987), im Severn Estuary in England (MOORE et al., 1979), im Forth Estuary in Schottland (RODDIE et al., 1984), in der Gironde (CASTEL & FEURTET, 1986), in der Wester Schelde (De PAUW, 1973), im Ems-Dollart (BARETTA, 1977), in der Weser (SOLTANPOUR-GARGARI & WELLERSHAUS, 1984) sowie in zahlreichen nordamerikanischen Ästuaren (MILLER, 1983).

Die Voraussetzung für den Populationserhalt von Eurytemora affinis ist jedoch nur gegeben, wenn die Reproduktion, also die Vermehrungsrate, das stetige Ausspülen der Tiere in die Nordsee und ihre Mortalität auszugleichen vermag. PEITSCH (1992) stellte fest, daß gerade zur Hauptproduktionszeit von Eurytemora affinis im Frühjahr ein durch hohe Oberwasserabflüsse bedingter Nettotransport der Copepoden in Richtung Elbmündung stattfindet.

Während die Hauptbrutgebiete der euryhalinen Süßwassercladocere Bosmina longirostris in den geschützten Becken des Hamburger Hafens zu finden sind (VOLK, 1906), scheinen die Reproduktionszentren von Eurytemora affinis in den Flachwasserbereichen unterhalb Hamburgs zu liegen (KÖPCKE, unveröff.). Vor der Estemündung im Mühlenberger Loch tritt Eurytemora affinis nahezu ganzjährig in hohen Beständen auf (FIEDLER, 1991; KAFEMANN, 1992). LADIGES (1935) beobachtete nur in den Flachwassergebieten der Buhnenfelder und Sande regelrechte Schwarmbildungen von Eurytemora affinis: Er berichtete von "massenhaften Copepodenschwärmen..., die stellenweise das Wasser wolkenartig trübe färben". Neuere Untersuchungen zeigen, daß dort auch heute (1995) noch derartige Eurytemora-Dichten beobachtet werden (KÖPCKE, unveröff.).

Schon VOLK (1903) hatte angenommen, daß die Copepoden aus den flacheren, strömungsberuhigten Buchten in den Hauptstrom gelangen. DE PAUW (1973) machte die gleiche Beobachtung in der Wester Schelde und behauptete, der Hauptstrom besäße keine "eigene" Eurytemora affinis-Population, sondern sei auf den Import der Tiere aus diesen Bereichen angewiesen.

Die teilweise hohen Individuendichten von Eurytemora affinis in der Unterelbe sind ein wesentlicher Nahrungsbestandteil der Elbfische und ihrer planktisch lebenden Larven. MÖLLER (1989) führte den Fischreichtum der Unterelbe auf das gute und vielfältige Nahrungsangebot zurück und FIEDLER (1991) sprach von "nahezu optimalen Bedingungen" für adulte und juvenile Fische sowie für die Fischbrut. Zahlreiche Stintlarven nutzen das reichhaltige Nahrungsangebot im Mühlenberger Loch vor allem zur Zeit des Frühjahresmaximum von Eurytemora affinis (THIEL et al., 1995). LADIGES (1935) hatte den Bereich vor der Estemündung als den "fischfutterreichsten und damit gleichzeitig fischreichsten Teil des Stromes bezeichnet".

Ohne derartige Retentionsgebiete wäre ein Populationserhalt von Eurytemora affinis im Elbe-Ästuar vermutlich nicht möglich, würde also Eurytemora affinis (und damit auch die Nahrungsgrundlage vieler Fische) in der strömungsstarken Unterelbe nicht existieren können.

Neben Eurytemora affinis prägen auch die Cladoceren (insbesondere die Art Bosmina longirostris) und die Mysidacee Neomysis integer zeitweise mit sehr hohen Individuendichten das Zooplanktonbild. Innerhalb des Mikrozooplanktons wiederum spielen die Rotatorien (vor allem Brachionus- und Keratella-Arten) eine bedeutende Rolle. All diese Organismen sind einschließlich des Myko-, Bacterio- und Phytoplanktons sowie der Fische und ihrer Larven Bestandteile des Nahrungsnetzes in der Tide-Elbe. So üben viele Zooplankter durch ihr "Grazing" einen erheblichen Fraßdruck auf planktische Algen aus, andere leben räuberisch und ernähren sich von kleineren Zooplanktern. Die Mysidaceen, wie z.B. Neomysis integer, leben omnivor, d.h. sie ernähren sich sowohl von Algen als auch von Detritus, Rotatorien und Copepoden. Wie auch Eurytemora affinis (BERNÁT, unveröff.) scheinen sie die in der Tide-Elbe ausreichend zur Verfügung stehenden, mit Bakterien, Ciliaten, Algen und Pilzen angereicherten, Schwebstoffe zu konsumieren (KÖPCKE, unveröff.) und bilden ihrerseits eine wichtige Nahrungsgrundlage für die Fische und deren Larven.

Daß man eine Komponente innerhalb eines Ökosystems, wie es die Tide-Elbe darstellt, nicht losgelöst von der Gesamtheit betrachten darf, zeigte ODUM (1983) in seinem Lehrbuch "Grundlagen der Ökologie":

Nach ODUM (1983) ist ein Ästuar ein gekoppeltes System mit einem ausbalancierten Gleichgewicht zwischen physikalischen und biologischen Komponenten unter Erreichung einer hohen biologischen Produktivität. Es besteht aus mehreren Subsystemen, die durch die Tidenbewegungen miteinander verbunden sind. Bedeutende Subsysteme sind:

1. Die Flachwasser-Produktionszonen, in denen die Rate der Primärproduktion größer ist als die Reproduktionsrate der Gemeinschaft. Von dort aus werden Energie und Nährstoffe in die tieferen Flußbereiche exportiert.

2. Das Sediment, in dem die Respiration größer ist als die Produktion. Dort werden die aus der Produktionszone stammenden partikulären und gelösten organischen Substanzen verbraucht sowie Nährstoffe rückgeführt und gespeichert.

3. Das Plankton und Nekton, die sich frei zwischen den beiden anderen Subsystemen bewegen und Nahrung und Energie produzieren, transportieren und umwandeln. Das Subsystem reagiert dabei ständig auf saisonale und tidenbedingte Schwankungen und reagiert schnell auf Änderungen der verfügbaren Ressourcen.

Den Zooplanktonorganismen kommt demnach also eine vermittelnde Position zwischen den phytoplanktonreichen Flachwasserbereichen (pers. Mitt. K WILTSHIRE) und den Sedimenten der Hauptstromsohle zu, sie zählen aber zu den ersten, die von Eingriffen in das Ökosystem betroffen sind.

Umfangreiche Abtrennungen von Prielsystemen durch den Deichbau führten zum Verlust eines großen Anteils von tidebeeinflußten Rinnen. In Folge von Aufspülungen erhöhten sich die betroffenen Geländebereiche, wodurch sie dem Gewässersystem entzogen wurden. Fortlaufend durchgeführte Fahrwasservertiefungen verstärkten die Kanalisation der Fahrrine und verstärkten die Sedimentationsprozesse auf den Watten und in den Nebenelben. Diese Faktoren hatten extem negative Auswirkungen auf die für das Zooplankton so wichtigen Flachwassergebiete, die in ihrer Ausdehnung stark zurückgegangen sind. Dadurch wurden sowohl die Brut- als auch die Retentionsgebiete des Zooplanktons verkleinert. Diese Umstände hatten negative Auswirkungen auf die Reproduktion, das Populationswachstum und damit letztendlich auf den Erhalt der Population in der Elbe.